Pressephotographie der 1980er und 1990er Jahre

Massenkarambolage auf der Autobahn oberhalb von Goldach am 3. Dezember 1994. Bild Lukas Unseld

Noch weniger, wenn ein Gspänli von damals mitliest oder besser gesagt: mitblättert. Heft Nr. 10 versetzt einen schon an der Kasse in die Zeit vor dreissig Jahren und sogar noch ein paar Jahre weiter zurück, in eine Zeit, als Zeitungsfotos in Hängeregistern aufbewahrt wurden und nur der Redaktionsleiter genau wusste, was vorhanden ist. Es waren selbstredend Schwarz-Weiss-Fotos. So, wie sie mit dickem Filzstift nach der Morgensitzung auf den Maquetten aufgezeichnet worden waren, wurden sie später zugeschnitten.

Bilder aus einer anderen Zeit

«Denk mal, wir verlieren dieses Denkmal» – ein Transparent zum drohenden Verkauf der Badhütte 1996. Bild Jorma Müller

Die Bilder in der Zeitung hatten dannzumal diesen leichten grauen Schleier – ganz im Gegensatz zu jenen im «Heft» des Kulturhistorischen Vereins der Region Rorschach. Es trägt den Titel «Regionale Pressefotografie 1980–1998». Hier sind sie klar, scharf, meist grossformatig, und immer wieder mit dem für Papierabzüge typischen schwarzen Rahmen, zu sehen. Das Heft nimmt einen gefangen. «Die Bilder kommen aus einer anderen Zeit», sagt Historiker Peter Müller vom Vorstand des Kulturhistorischen Vereins Region Rorschach im Interview mit dem SRF-Regionaljournal. «Sie sind 30, 40 Jahre alt. Das ist eigentlich wenig – und doch ganz viel.» Ganz viel deshalb, weil sie «am Vorabend unserer heutigen Bilderflut entstanden sind».

Wie viele andere, die am Heft mitgearbeitet haben, war auch Müller nah dran am Lokaljournalismus in der Region Rorschach. «Das Leben war fokussierter, kompakter, lokaler», sagt er. «Das merkt man, wenn man auf die Bilder eingeht. Internet und Smartphone haben viel verändert.» Was Müller damit meint, erläutert beim Einstieg in diese Bild-Welten ein prägnantes Interview-Zitat: «Im analogen Zeitalter waren der Reporter und der Fotograf die ersten Personen vor Ort. Erst am nächsten Tag erschien der Bericht in der Zeitung. Wir waren über viele Ereignisse informiert, die der Öffentlichkeit noch nicht bekannt waren. Das hatte seinen besonderen Reiz.»

Pressebilder wirken heute oft kalkuliert, auf einen einzigen Effekt komponiert, findet er. Natürlich spiele auch eine Rolle, dass Bilder und Texte heute kompatibel sein müssten für verschiedene Formate. Die Arbeit am «Heft» Nr. 10 habe ihm wieder einmal bewusst gemacht, was sich mit der Digitalisierung verändert hat. Zurückschauen schärfe die Wahrnehmung dafür, was eigentlich passiert. Ein Blick in die Lokalzeitungen und auf die Bilder von vor 30 oder 40 Jahren werfe Fragen zur demokratischen Öffentlichkeit auf. Wie geht’s zum Beispiel einer Gemeinde? Wer setzt sich ein? Was für ein Diskurs wird geführt? Auch wenn die Fotografen eine Vorauswahl getroffen haben, die Bildauswahl sei diesmal besonders schwierig gewesen, sagt Peter Müller.

Momente des öffentlichen Lebens

Für die zehnte «Heft»-Ausgabe haben sich drei der Fotografen von damals zum Gespräch getroffen: Lukas Unseld, D-J Stieger und Jorma Müller. «Die Position oder die Rolle des Fotografen gefiel mir. Ich war mittendrin im Geschehen, und doch konnte ich mich hinter meiner Kamera gewissermassen verstecken», sagt Lukas Unseld im Gespräch mit Martin Buschor. Dennoch: Man merke den Bildern an, dass die Fotografen ein Teil dieser Lebenswelt der 80er- und 90er-Jahre waren, sagte eine der Autorinnen an der Vernissage. «Sie haben die Leute und die Geschichten gekannt.»

Unseld erinnert sich an eine Zeit grosser Freiheit in der Bildgestaltung und ans Standardbriefing der Redaktion: «Mach mal.» D-J Stieger ist der kulturelle Aufbruch mit seinen Inszenierungsmöglichkeiten in Erinnerung geblieben, Jorma Müller seine Suche nach einem ausgefallenen Bild. Zu sehen sind im «Heft» – es ist fester Bestandteil im Programm des Kulturhistorischen Vereins Region Rorschach – Momente des öffentlichen Lebens in der Region Rorschach.

Warum lösen die Bilder etwas in einem aus, selbst wenn man den Ort nicht kennt? Auf diese Frage sagte Peter Müller im Interview: «Die Bilder wurden im Stress des Tagesgeschäftes gemacht – und doch treffen sie immer wieder ins Schwarze, wirken oft heute noch: Das ist ein kleines Wunder.» Eines seiner liebsten Bilder im neuen «Heft» ist das der Massenkarambolage auf der Autobahn oberhalb Goldach von 1994. 70 Autos waren beteiligt. Das Bild hat Symbolkraft. «Irgendwie sieht’s aus wie in einem Katastrophenfilm in Hollywood. Es ist aber bei uns, real und fragt zum Beispiel: Wie geht es mit der Mobilität weiter?»

Ungeahnte Aktualität hat ein Bild auf dem Titelblatt erhalten: «Kein Cüpli im Hüttli» heisst es auf einem der Transparente und auf einem anderen «Denk mal, wir verlieren dieses Denkmal». Es ist das Bild einer Kundgebung von 1996, als der Verkauf der Badhütte an einen «Erlebnis-Gastronomen» drohte. Vor Heiligabend ist die Badhütte abgebrannt. Das Denkmal ist Geschichte. Und die Frage zur Öffentlichkeit in der Region ganz präsent. Oder um Roman – Römi – Elsener aus dem «Heft» zu zitieren: «Hat Rorschach erkannt, dass es gerade die Ideen sind, die nicht auf dem Reissbrett der Stadt entstehen, die unsere Region vorantreiben?»

Hinweis Das Heft gibt’s für 15 Franken in ausgewählten Buchhandlungen und Geschäften: WörterSpiel (Rorschach), Kunstshop Forum Würth (Rorschach), Schmid-Fehr AG (Goldach), Mode Lutz (Goldach) und Buchhandlung zur Rose (St.Gallen). Weiteres: rorschachergeschichten.ch

Tagblatt Region Rorschach, 27. Dezember 2024
Text: Jacqueline Schilling
Bilder: Lukas Unseld und Jorma Müller

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