Rorschach will Kurort werden

Hotel Schiff, Rorschach. Briefkopf Lithographie um 1900.
Hotel Schiff, Rorschach. Briefkopf Lithographie um 1900.

«Wohl selten ist ein Ort der schönen Schweiz so sehr zum Kurorte geeignet, wie das am Fusse des herrlichen Rorschacherberges gelegene Rorschach.»51 Als dieser verheissungsvolle Satz 1873 einen Zeitungsartikel einleitete, hatte die kleine Hafenstadt bereits ein rundes Vierteljahrhundert Kur-Geschichte hinter sich. Es ist nicht verwunderlich, dass um die Jahrhundertmitte, als der Fremdenverkehr von Tag zu Tag seine Stellung in der schweizerischen Volkswirtschaft verbesserte, auch die Rorschacher alle Kräfte mobilisierten, um der Segnungen der neuen Zeit teilhaftig zu werden. Und die Voraussetzungen fir gutes Gelingen standen nicht schlecht: Die freundliche Landschaft, die einzigartige Verkehrslage, die Vielzahl stattlicher historischer Gebäude und nicht zuletzt die ausbaufähige Infrastruktur, d.h. die Menge renommierter Gasthäuser und Wirtschaften. Der Degersheimer Weber Johann Jakob Brunner kam aus dem Staunen nicht heraus, als er 1855 zum erstenmal den Anblick der Hafenstadt genoss: «Was fanden wir am Orte selbst für prächtige Gebäude! Nach unserem Dafürhalten waren es wirkliche Paläste, worunter ich namentlich das Kornhaus, das Kaufhaus sowie einige Wirtshäuser zählen möchte.»52 Rorschach bot sich im ganzen als Idylle dar, die durchaus versprach, Ertrag abzuwerfen.

Schon vor dem Eisenbahn-Zeitalter stellten Postkutschen Verbindungen nach allen Himmelsrichtungen her, und neben den offiziellen Kursen boten private Lohnkutschereien ihre Dienste an.

Ein Reiseführer von 1840 orientiert über die Fahrzeiten: «Man ist in Stunden in Konstanz, in 10 Stunden in Zürich oder Chur, in 24 Stunden in München oder Stuttgart, in zwei Tagen in Mailand oder Innsbruck.»53 Seit der Apotheker Ignaz Xaver Rothenhäusler das Molkenkurwesen eingeführt und der Kantonsrat Dr. Carl Bärlocher die Vorzüge Rorschachs in einem Büchlein eingehend beschrieben hatte, schwoll der Strom der Fremden an, und als dann gar die Eisenbahn in Bälde hier einzutreffen versprach, gediehen die üppigsten Hoffnungen.

Ihm Vorfeld des Eisenbahn-Zeitalters geriet das Hafenstädtchen in zappelige Erwartung, so dass ein neidischer Appenzeller verschnupft rapportierte: «Hier ist es nicht zum Aushalten vor lauter Hochmut. Die Wirte schauen einen ehrlichen Mittelsmann, der seinen Schoppen trinkt und zahlt, gar nicht mehr an, seit alle Dampfschiffe voll langer Engländer, hämorrhoidalischer <teitscher> Beamten und sprudelnder Franzosen ankommen und die Hotels à la poste, au cerf, au vaisseau, à l'arbre vert, und wie die Confortationshäuser alle heissen, anfüllen ...»54 Tatsächlich hat dann die Eisenbahn mehr das Durchreisen als das Verweilen gefördert. Man verbrachte seine Ferien lieber in den vielgepriesenen Alpengegenden, besonders im Appenzellerland, das seit der Eröffnung der Rorschach- Heiden-Bergbahn (1875) leichter erreichbar war.

Die Fremdenindustrie war vor allem als notwendige Reaktion auf den grauen Industrie-Alltag entstanden, der das Bedürfnis nach heiler Landschaft und frischer Luft gewaltig gesteigert hatte. Eine idealisierte Natur wurde zum Projektionshintergrund von Sehnsüchten nach Freiheit, Gesundheit, Ruhe und Entlastung, nach allem, was das durchrationalisierte Normalleben verweigerte. Gab die Natur nichts her für den Fortschritt der materiellen Produktion, sollte sie wenigstens für Körper und Seele von Nutzen sein. Die reichen Ausländer entflohen dem Rauch und dem Lärm zur Kur in die Schweiz, die ärmeren Einheimischen erholten sich beim Spazieren in der Umgebung oder in den Schrebergärten.

Rorschacher Wochenblatt, Anzeigenseite 1853
Rorschacher Wochenblatt, Anzeigenseite 1853

Der <Seehof> genoss den Ruf, das luxuriöseste Hotel am Platze zu sein. 1872 war es als Folge jener phantastischen Erwartungen, die der Ausgang des Deutsch-Französischen Krieges genährt hatte, zum Grosshotel umgebaut worden. Neben den bereits traditionell angesehenen Gasthöfen wie dem <Grünen Baum> und der <Krone> etablierten sich im 19. Jahrhundert weitere Häuser. Innerhalb der vier Jahrzehnte von 1840 bis 1879 vergrösserte sich die Zahl der Gasthöfe um ein Mehrfaches, und dies, obwohl die Resultate von Anfang an ständig etwas hinter den Erwartungen zurückblieben.

Die Molkenkuren und verschiedenen Bäder, die in Rorschach mehr als gut vertreten waren und die von der damals blühenden medizinischen Reformbewegung als wahre Quellen der Gesundheit angepriesen wurden, verschafften der hiesigen Hotellerie über längere Zeit eine solide wirtschaftliche Basis.

1865 konstituierte sich ein Kurverein, der sich bald mit der Gemeinnützigen Gesellschaft zusammentat, «um ... mit umso grösserer Kraft verdienstliche Bestrebungen für (die) Hebung des Ortes zu verfolgen.»55 Kurz vorher hatten um die wirtschaftliche Förderung des Ortes besorgte Bürger Anteilscheine von Fr. 10.- zur Anschaffung von Ruhebänken gezeichnet und die ganze Bevölkerung zur Unterstützung ihrer Bestrebungen aufgerufen, «umso mehr, als es gilt, sein Scherflein auf den Altar des eigenen Herdes zu legen.»56

Ungeachtet der Aktivitäten des rührigen Kurvereins meinten manche, es wäre noch mehr für die Hebung des Fremdenverkehrs zu tun. 1870 behauptete ein kritischer Rorschacher, es finde sich noch «so viel Unästhetisches
und Unangenehmes in unserm Orte» und verwies zum  Exempel auf das «durch Hineinwerfen von Kehricht»57 zunehmend verschmutzte Seewasser hin. Die «löbliche Cur-Commission» indessen fuhr in ihrer Tätigkeit rastlos fort, schuf Ruheplätze und brachte Wegweiser an. 1884 unterbreitete sie dem Gemeinderat eine ganze Liste von Verbesserungsvorschlägen und brachte u.a. vor: An den beim Kurplatz erstellten Zaune würden «Waschgegenstände aller möglichen, oft nicht gerade schönster Sorten, oft geradezu ekelhafte Fetzen aufgehängt» und wollte «dieses Aufhängen von Wäsche zumeist ärmerer Leute verboten wissen. Ferner votierte die Kurkommission, «um die stete Verunreinigung der öffentlichen Strassen und Plätze zu beschränken»,58 für die Erstellung von Bedürfnisanstalten an geeigneten Orten.

Solch achtbares Tun schlug zwar zu Buche, aber dennoch schaffte Rorschach den Aufstieg in die obersten Ränge der Kurorte nicht, sondern blieb in erster Linie Durchgangsstation und Ziel kurzer Sonntagsausflüge. Dass die grossen Hoffnungen begraben werden mussten, hatte zwei Hauptgründe: der eine liegt in der bereits erwähnten
Wirkung der Rorschach-Heiden-Bahn, und als zweite Ursache muss wohl die Krise in Rechnung gestellt werden, die auf die überhitzte Konjunktur in der ersten Phase der Gründerzeit folgte. 1879 kam der <Seehof> unter den Hammer, 1893 musste der Gemeinderat den damaligen Inhaber des einstigen Nobelhotels eindringlich auffordern, den «öffentlichenTeil des Seehof-Gartens in gehörigen Stand als Gartenanlage zu versetzen».59 Symptom einer verfehlten Spekulation. 1900 stellte das berühmteste und grösste Rorschacher Hotel seinen Betrieb endgültig ein.

Der Niedergang war gewiss bedauerlich, aber nicht tragisch, denn mittlerweile hatte sich die Industrie etabliert, die zu solideren Hoffnungen Anlass bot als der Fremdenverkehr, für den andere Orte trotz allem besser waren als Rorschach.

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51 Ostschweizerisches Wochenblatt, 7.8.1873
52 J. J. Brunner, Tagebuch. Degersheim 1980, S.97 f.
53 J. J. Leuthi, Der Begleiter auf der Reise durch die Schweiz. Zürich 1840, S.356
54 Appenzeller-Zeitung, 17.7.1852
55 Ostschweizerisches Wochenblatt, 25.11.1865
56 Ostschweizerisches Wochenblatt, 24.6.1865
57 Ostschweizerisches Wochenblatt, 24.5.1870
58 Protokoll des Gemeinderates Rorschach, 15.7.1884
59 Protokoll des Gemeinderates Rorschach, 22.8.1893

Text: Louis Specker
Buchtitel: Rorschacher Kaleidoskop 1985, S.33-35
Historische Skizzen aus der Hafenstadt im hohen 19. Jahrhundert
Copyright: 1985 by E. Löpfe-Benz AG, Rorschach

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