Die Entdeckung der Hygiene und was damit zusammenhängt

Alter Jakobsbrunnen, um 1900 durch einen neuen ersetzt. Photo H. Labhart.
Alter Jakobsbrunnen, um 1900 durch einen neuen ersetzt.

Für die Angehörigen des 20. Jahrhunderts ist es schwer vorstellbar, dass alles, was heute unter dem Titel Sauberkeitspflege unverzichtbarer Bestandteil der Lebensführung geworden ist, erst seit etwa 100 Jahren existiert, wenngleich die Sache als solche ihre Vorläufer aufweist. Zwar hat die Aufklärung auch hierin Pionierarbeit geleistet. Aber mit etwelcher Berechtigung darf man die Behauptung wagen, es sei das 19. Jahrhundert gewesen, das mit Wissen und Wollen die Hygiene ausgebildet habe.

1883 erschien Professor Max Pettenkofers bahnbrechendes <Handbuch der Hygiene> - es war die Geburtsstunde der wissenschaftlich betriebenen Sauberkeitspflege. Indessen kamen die Postulate dieser neuen medizinischen Disziplin erst zu segensreicher Wirkung, als die Bedeutung der Reinlichkeit für die Erhaltung des menschlichen Lebens fest ins Bewusstsein der Leute eingedrungen war.

Der Erziehungsprozess, der zu dieser Bewusstseinsveränderung führte, findet seinen Niederschlag in den Quellen ungefähr seit der Jahrhundertmitte. Es ging im Grunde genommen darum, die Menschen davon zu überzeugen, dass Krankheit nicht in jedem Falle böses Schicksal war. Bis sich Wissenschafter, fortschrittliche Bürger und einsichtige Behörden mit der Unterstützung weiter Bevölkerungskreise im Kampf gegen die heimtückischen Gefahren für Leib und Leben zusammenfunden hatten, dauerte es seine Zeit.

Um 1850 machte hierzulande ein «rühmlich bekannter Professor der Urgesundheitswissenschaft» von sich reden und streute als Urgesundheitsapostel» die Weisheit unter das Volk, wonach «die Gesundheit die Eins ist, die allen Nullen, in denen die übrigen Güter des Lebens enthalten sind, vorgesetzt wird.»141 Man mag über Eiferer dieser Art lächeln, darf ihnen aber nicht das Verdienst absprechen, die Leute auf das Problem aufmerksam gemacht zu haben. Schon immer war es so, dass nicht die schlechten, sondern die guten Anregungen der Apostel bedurften. Die Öffentlichkeit reagierte im Zusammenhang mit Fragen der Hygiene zunehmend sensibilisierter, immer weniger wurden Schmutz und Unordnung toleriert, nun machte man offiziell Jagd auf sie.

1865, so ist einer Zeitung zu entnehmen, war der Gemeinderat über die «Verunreinigung der öffentlichen Brunnen» besorgt und mahnte, «sich der möglichsten Reinlichkeit»142 bei deren Benützung zu befleissigen. Gewissenhaft achtete die Gesundheitskommission sowohl in öffentlichen Lokalen wie in Privatwohnungen auf die Einhaltung von Sauberkeitsregeln. 1875 musste sie den Umstand rügen, dass bis auf drei Ausnahmen in den Rorschacher Metzgereilokalitäten «ein unreinlicher Zustand angetroffen werde».143 Der Besitzer eines Dachzimmers, in welchem «weder gelüftet noch die Bettwäsche gewechselt werde und zudem drei Personen einlogiert»144 waren, wurde 1899 von den Gemeindebehörden zu einer gründlichen Reinigung gezwungen.

Waschhaus am Ufer von Rorschach. Zeichnung von Lina Respini, 1874.
Waschhaus am Ufer von Rorschach. Lina Respini, 1874.

Die Angst vor der Cholera hat wesenlich mitgeholfen, den Siegeszug der Hygiene zu beschleunigen. Wegen dieser unheimlichen Infektionskrankheit mussten 1873 sämtliche Abtrittgruben desinfiziert werden, «denn trotz Vorschriften wird mancherorts die Anwesenheit des Abtrittes schon beim Eintritt in das Haus durch das Nasenbureau angezeigt.»145 Der konservative <Rorschacher Bote> scheint allerdings nicht übermässig viel Vertrauen in die wissenschaftliche Hygiene gesetzt zu haben, äusserte er doch allen Ernstes die Meinung, dass die Bedrohung wirkungsvoller durch eine Vermehrung der Prozessionen als durch Desinfektionsmassnahmen zu bekämpfen sei.

Als die Cholera 1884 in Frankreich auftrat, erliess der Bundesrat, um die Einschleppung zu verhindern, Vorschriften, die unsere Gemeinde direkt betrafen, weil «Rorschach als eine der Stationen bezeichnet ist, an welchen von den Eisenbahnbeamten Personen, welche als cholerakrank oder verdächtig befunden wurden»,146 den Gesundheitsbehörden zu übergeben waren. Im Gemeindekrankenhaus richtete man eine Isolierstation ein. Nachtwächter Ludwig Hüttenmoser erklärte sich bereit, «im Notfalle den Krankendienst zu übernehmen».147 Dank der gezielten Abwehrbereitschaft ging die Gefahr vorüber.

Mit der Verbesserung der allgemeinen hygienischen Verhältnisse hängt die Modernisierung der Trinkwasserversorgung aufs engste zusammen. Obwohl seit 1860 zu jedem neuen Haus ein Sodbrunnen errichtet werden musste und sechs öffentliche Brunnen für den damals rund 1800 Einwohner zählenden Ort sauberes Wasser spendeten, befriedigten die Zustände nicht mehr, Klagen über Verunreinigungen häuften sich.

Besonders prekär stand es in den neuen Quartieren. Gemeinderat Apotheker Caspar Rothenhäusler setzte sich unentwegt für eine zeitgemässe Trinkwasserversorgung ein. Die Verminderung der Wasserqualität sei «verschiedenen bösen Influenzen, hauptsächlich aber dem Übelstand zuzuschreiben ..., dass bei Anlegung der Abtrittgruben auch nicht der kleinste Teil von sanitären Vorsichtsmassregeln beobachtet worden seien»148 Die Untersuchungsergebnisse des Kantonschemikers veranlassten Gemeinderat J. R. Geering zum Ausruf: «Schaffet möglichst rasch gutes Trinkwasser für eure Häuser, sonst habt ihr Epidemien zu riskieren!»149 Und warnend wurde der grosse Geologe Albert Heim aus Zürich zitiert: «Die Trinkwasserverhältnisse in Rorschach sind geradezu entsetzlich ...»150

Bei diesem Stand der Dinge durfte die Gemeinde die Sache nicht mehr weiter hinausschieben. 1886 begann man mit der Fassung der Quellen beim Sulzberg, und am 23. Mai 1888 konnte die neue Wasserversorgungsanlage dem Betrieb übergeben werden. Weil das Unternehmen gegen erhebliche Widerstände in der Bürgerschaft durchgesetzt werden musste und Streitereien wegen Wasserrechten drohten, wurde die Baukonzession einer privaten Gruppe, bestehend aus den Herren Ingenieur Krämer, Kaufmann J. R. Geering und Caspar Rothenhäusler, erteilt. Die Gemeinde als Konzessionärin reservierte sich das Recht, «das Werk unter günstigen Bedingungen an sich zu ziehen, falls es sich als lebensfähig und lukrativ erweise ...»151

Oberst Cunz betonte in seiner feierlichen Eröffnungsrede, dass nicht handfeste Privatinteresscn das ärgste Hindernis auf dem Wege zur Realisierung gewesen seien, sondern «jene dunkle Macht, die zu je und allen Zeiten grossen Unternehmungen hemmend in den Weg getreten, der Mangel an Verständnis für die Forderungen der gegenwart, die Angst von dem unbekannten Neuen, der Neid und die Missgunst, die sich jeder aussergewönlichen Tat an die Fersen hangen».152

Die neue Trinkwasserversorgung hatte bald keine Feinde mehr, so dass am 5. August 1900 die Übernahme des «segensreichen Werkes» durch die Gemeinde ohne Schwierigkeiten erfolgen konnte. Der steigende Wasserbedarf nötigte zum Kauf weiterer Quellenrechte und schliesslich zum Anschluss an das Wasserwerk Rietli. Vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges verfügte Rorschach über eine Wasserversorgung, die im vollen Umfang den zeitgemässen hygienischen Anforderungen entsprach.

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141 Rorschacher Wochenblatt, 20.9.1850
142 Warnung. Ostschweizerisches Wochenblatt, 24.6.1865
143 Protokoll des Gemeinderates Rorschach. 8.11.1875
144 Protokoll des Gemeinderates Rorschach. 31.10.1899
145 Ostschweizerisches Wochenblatt, 13.9.1873
146 Protokoll des Gemeinderates Rorschach. 15.7.1884
147 Ebenda
148 Protokoll des Gemeinderates Rorschach. 3.11.1885
149 Ebenda
150 Ebenda
151 C. Rothenhäusler, Wasserversorgung Rorschach. Ostschweizerisches Wochenblatt, 18.8.1900
152 Ebenda

Text: Louis Specker
Buchtitel: Rorschacher Kaleidoskop 1985, S.70-72
Historische Skizzen aus der Hafenstadt im hohen 19. Jahrhundert
Copyright: 1985 by E. Löpfe-Benz AG, Rorschach

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