Ein junger Rorschacher erlebt den Coronation Day (2. Juni 1953)

Ludwig Dudler 1953 am Stiftenball in der «Waldau»
Ludwig Dudler 1953

Ich startete am Samstag vor Pfingsten, beladen mit einem 20 Kilogramm schweren Rucksack und einer Guitarre. Auf dem ganzen Weg war ich mehr oder weniger von Fortuna begleitet, und ich traf schon nach fünf Stunden in Basel ein. Auf Lastwagen rollte ich über die Vogesen nach Nancy, von wo ich mit komfortablen Amerikaner Wagen am Pfingstmontag Brüssel erreichte. Ich blieb noch einen Tag in der belgischen Hauptstadt, dann rief mich die Landstrasse wieder.

Dieser Tag begann sehr gut. Ich war bereits nach zwei Stunden in Antwerpen, um mir den Zoo und den Hafen anzuschauen. Am Mittag zog ich dann Richtung Holland, und nachdem ich etwa 5 Kilometer getippelt war, begann es zu regnen. Ich tropfte innert kurzer Zeit nur so; es wollte einfach kein Wagen mehr anhalten. Das war ja auch ganz klar, denn wer will bei diesem Wetter das nasse Zeug in den Wagen laden. Nach 17 Kilometern hatte ich genug, hockte in ein Café wartete auf das Tram und fuhr bis zur holländischen Grenze. Von dort stieg ich in den Zug und ratterte nach Rotterdam. Da das Wetter sich nicht besserte, blieb mir nichts anderes übrig als meine Abstecher nach den Haag und Amsterdam ebenfalls mit der Bahn zu machen.

Place Stanislaus, Nancy, 1953
Place Stanislaus, Nancy, 1953

Am Sonntagmittag ging's hinaus von Hoek van Holland mit dem Fährschiff über den Kanal, der uns sehr stürmisch empfing. Nach zwei Stunden war das ganze Schiff in ein Lazarett umgewandelt. Selbst meinen mit guten Sandwiches gefüllten Magen musste ich Neptun opfern. Ich glaube, ausser der Bootsmannschaft und einem Appenzeller, der einen ausserordentlich seetüchtigen Magen haben musste, war der ganze Kahn seekrank. Jedoch, es geht alles vorüber, und nach sieben durchgeschaukelten Stunden langten wir alle guterhalten in Harwich an, wo ich beinahe wieder heimgeschickt wurde. Als nämlich der Zöllner erfuhr, dass ich nur noch 70 Schweizer Franken hatte, konnte er kaum glauben, dass ich mit dem Geld drei Tage in England bleiben und davon noch die Ueberfahrt nach Dünkirchen bezahlen wollte. Dann ging's noch an die letzte Etappe bis zu meinem Ziel, mit dem Zug nach London. Die Jugendherberge war zum Bersten voll; ich war froh, meinen Platz zum Voraus bestellt zu haben. So konnte ich wenigstens jene Nacht wieder einmal richtig ausschlafen.

Internationaler Gerichtshof, Den Haag, 1953
Internationaler Gerichtshof, Den Haag, 1953

Am Tage vor der Krönung war in London bereits Hochbetrieb. Nachdem ich mir die City angeschaut hatte, fuhr ich mit der Metro wieder zurück in die Jugendherberge, wo ich mich verproviantierte. Ich nahm den Schlafsack unter den Arm und ging um halb acht Uhr abends zum Hyde-Parc, wo sich bereits Tausende von Menschen niedergelassen hatten. Ich machte es mir bequem so gut ich konnte, und nach 1 1/2 Stunden war das ganze Trottoir belegt mit Leuten aus allen Gegenden Englands. Mit allen möglichen und unmöglichen Gegenständen suchte sich jeder so komfortabel einzurichten wie er konnte. Das Treiben, das hier herrschte, war allein schon interessant. Es war ein Glück, dass man ohne weiteres einmal weg konnte, um an einem der Stände, die sich in den Parkanlagen niedergelassen hatten, eine Tasse Tee, der in England herrlich ist, zu trinken. Man musste sich dabei aber seinen Platz gut merken, denn unter diesem Gewimmel war es schwierig, sich wieder zurecht zu finden. Gegen Mitternacht wurde es dann etwas stiller, und ich schlüpfte in meinen Schlafsack, der auf dem noch feuchten Boden lag. In meinen drei Kitteln, einem Hemd und zwei Paar warmen Hosen hatte ich warm genug, und ich schlief dann auch wirklich bis ich spürte, dass es regnete. Ich blickte auf die Uhr, es war 5 Uhr. Um 6 Uhr las man seine Siebensachen zusammen und schloss gegen vorne auf. Ich hockte auf meinen zusammengerollten Schlafsack, und in dieser Stellung verblieb ich bis nachmittags halb 3 Uhr. Mit Witze erzählen und Schlagersingen vertrieb man sich die Langeweile. Um 10 Uhr nahmen die Truppen der Royal Air Force Stellung. Da nicht weit von uns eine Militärmusik stand, die wir immer wieder zum Spielen anfeuerten, gab es Unterhaltung genug.

Tower Bridge, London, 1953
Tower Bridge, London, 1953

Endlich war es soweit. Der Reporter kündigte den Beginn der Parade an, nachdem wir mit Spannung die Krönung in der Kirche, die durch Lautsprecher Übertragen worden war, verfolgt hatten.

Die Farbenpracht, die diese Truppenschau bot, war grossartig. Es waren alle Farben, vom Blau der Fliegertruppen über Khaki bis zum grellen Rot der Leibgardisten der Königin. Während dieser Truppenschau hörte ich zum ersten Mal eine schottische Dudelsackmusik in original. Die Musik ist noch aufreizender als diejenige der Basler an der Fasnacht. Bald begann der Zug der Königin. Die ersten Bärenfellmützen tauchten am Ende der Strasse auf. Hei, gab das eine Bewegung in das Volk. Alles streckte die Köpfe. Aus kilometerweiter Entfernung hörte man ein Getöse, das langsam immer näher kam, wie ein Unwetter, aber mit dem Unterschied, dass das Unwetter bereits da war. Die Minuten, die wir noch warteten, wurden zu Stunden. Die Engländer um mich herum waren kaum mehr zu halten, und endlich war es so weit. Der erste Wagen wurde mit einem riesigen Jubel empfangen; der Lautsprecher, der über uns hing, wurde übertönt von diesen Hurrarufen. Nach dem Prinzessin Margaret und Königinmutter Elisabeth vorbeigefahren waren, wurde es wieder stiller. Aber es war nur eine kurze Stille. Jeder holte aus seiner Stimme heraus was er konnte, und nur ganz schwach hörte man die Militärmusik die englische Nationalhymne spielen, und mitten in diesem Lärm stand ich und schrie mit, so hatte mich diese Begeisterung mitgerissen, die ein Schweizer nicht verstehen kann, wenn er den Engländer nicht kennt. Nur langsam verebbte der Lärm, bis er nur noch aus der Ferne gehört wurde. Was mich überraschte, war, dass der EngIänder ein Gentleman blieb. Es gab kein Stossen und Drücken, wie es bei uns bei einem Volksauflauf gibt. Jeder begnügte sich mit dem Platz, den er eingenommen hatte, und nicht einer drängte vorn. Mit einem Siamesen zusammen schlängelte mich zurück, um Richtung Buckingham zu ziehen, wo wir auf einem der grossen Tore einen herrlichen Platz hatten. Dann, nachdem noch das grosse Feuerwerk auf der Westminsterbridge bestaunt hatte, zog ich mich zurück und ratterte in der vollgepfropften Metro zurück in die Jugendherberge.

Marineoffiziere an der Krönungsparade, 1953
Marineoffiziere an der Krönungsparade, 1953

Am Mittwoch, gegen Mittag, nahm ich Abschied von London und traf am Donnerstag morgens um 5 Uhr in Dünkirchen ein. Nach zwei Stunden Marschierens erwischte ich den ersten Wagen bis nach Calais, und nachdem ich acht Mal umgestiegen war, erreichte ich abends gegen 7 Uhr mit einem Citroen die französische Hauptstadt. Da ein grosser Verkehr herrschte, musste ich mich sputen mit aussteigen. Ich Stellte meinen Rucksack ab und wollte mich umdrehen um meine Guitarre zu holen, und schon sah ich den Wagen um die Ecke verschwinden. Zum Glück hatte ich die Adresse vom Fahrer bekommen, und da er mich nächstes Jahr besuchen wird, muss ich mein Instrument nicht als verloren betrachten.

Am andern Morgen um 9 Uhr verliess ich Paris in einem Renault Heck, und nachmittags 1/4 4 Uhr war ich erst ca. 90 km von Paris entfernt. Als ich einen Zürcher Wagen verpasste, war ich sehr bestürzt. Es wäre vielleicht alles nicht so schlimm gewesen, wenn mein Kassabestand nicht auf 1 Fr. 90 zusammengeschmolzen wäre. Dabei waren noch über 500 km zurückzulegen. Da entdeckte ich in einer Autokolonne einen VW mit einer Appenzeller Nummer. Als er stoppte, hätte ich vor Freude beinahe einen Handstand gemacht. Schon sechs Stunden später lag ich in der Jugendherberge in Basel und schlief. Die Strecke von Basel bis Rorschach war ein Kinderspiel, und ich konnte das Mittagessen wieder zuhause einnehmen. Ich hatte 2200 km zurückgelegt und bin in zirka 90 Wagen gefahren.

Text: Ludwig Dudler
Buchtitel: Rorschacher Monatschronik 1953, S.96-97
Copyright: 1953 by E. Löpfe-Benz, Rorschach

Historisches Video zum «coronation day»

Ludwig Dudler *5.2.1934. Hier im Jahre 2009 im Alter von 76 Jahren
Ludwig Dudler im März 2009

Ludwig Dudler hat sich sehr über obigen Bericht auf unserer Homepage gefreut und uns am 2. Juli 2013 folgende E-Mail zugesandt:

Ich war damals 19 Jahre alt und Zeichnerstift in der FFA. Bei der Konstruktionsarbeit am P16 war ich einem deutschen Ingenieur zugeteilt, der mich dazu motivierte meine Erlebnisse der Rorschacher Zeitung weiter zu geben.

Ich bin seit 1964 in Steffisburg und nach einem 4-jährigen Intermezzo bei SAIS Horn (1992-96) pensioniert wieder im Berner Oberland.

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