Vom Unbehagen an der Eisenbahn

Rorschach Bahnhof. Lithographie von l. Haltiner 1857.
Rorschach Bahnhof. Lithographie von l. Haltiner 1857.

Dass der Eisenbahnenthusiasmus Unzählige beinahe in Taumel versetzte, bezeugt der erste Blick in die Quellen, und dennoch ist mit dieser Feststellung das herrschende Klima keineswegs ausreichend gekennzeichnet. Am Rande zumeist nimmt man davon Kenntnis, dass sich eine Minderheit aktiv dagegen auflehnte oder wenigstens das lärmige Feuerwerk aus Fortschrittstiraden mit Kopfschütteln quittierte. Mir der Eisenbahn kam eine Bewegung ins Land, die manchen Angst und Schrecken einflösste, und das war zu begreifen, denn das rollende Ungetüm hatte dem biedermeierlichen Lebensrhythmus endgültig den Abschied geblasen oder besser - gepfiffen.

Rorschach änderte sein Gesicht und wurde vor allem seeseits nach dem alleinseligmachenden Dogma der Rarionalität mitleidlos umgestaltet. Der nördliche Teil des Kauf- und Gredhauses, «dieses Zeugen einer ruhmvollen Vergangenheit»,16 von Abt Ulrich Rösch in den achtziger Jahren des 15. Jahrhunderts erbaut, musste nach der Vollendung der Romanshorner-Linie weichen; aus dem verbleibenden Rest wurde das Stationsgebäude. Das <0stschweizerische Wochenblatt> rapportierte im Mai 1869: «Man kennt sich am Einsteigeplatz, am Hafen und dem ganzen See entlang nicht mehr aus; manche Gebäulichkeiten sind schon niedergerissen, andere teilweise demoliert und ihrer Zierden beraubt, die hübschen Gärtchen am See durchzieht ein Schienengeleise; überhaupt bewegt Rorschach gegenwärtig ein so reges Leben, wie es beim ersten Bahnbau nicht der Fall war.»17 Der Änderungssucht war von nun an kein Ende mehr.

Kaum waren die wichtigsten Orte durch Eisenbahnen miteinander verbunden, tauchten Zweigbahnprojekte auf, damit ja kein Gebiet unerschlossen bleibe, «denn sie (die Bahnen) bringen die bessere Existenz dieser und jener Landstrecke, dieses und jenen Ortes».18

Seit 1871 registriert man die Debatte um eine solche Zweigbahn nach Heiden. 1873 war deren Bau beschlossene Sache, 1875 gingen die Eröffnungsfeierlichkeiten, deren Kosten zum grossen Teil aus der Rorschacher Polizeikasse bestritten wurden, über die Bühne. Der Betrieb der Rorschach-Heiden-Bahn erwies sich schnell als finanzieller Erfolg. 1879 meldete die Verwaltung ein Jahresergebnis von Fr. 79'620.44, ein Jahr später betrug es bereits Fr. 87'511.24. Eisenbahnpläne noch und noch schossen ins Kraut. Ernsthaft beschäftigte man sich in den neunziger Jahren mit der Frage, ob es nicht tunlich wäre, zwischen Rorschach und Arbon auch noch eine Strassenbahn verkehren zu lassen.

Die Eisenbahnbegeisterung reklamierte für sich ganz rationale Gründe, wenngleich ihre letzte Triebfeder völlig irrationaler Natur war: der Glaube an den grenzenlosen Fortschritt. Der erwähnte Professor Selinger aus St.Gallen fasste in seinem Referat vor dem Handwerksgesellen-Verein «Über den Nutzen der Eisenbahnen» deren Vorteile in vier Punkten zusammen:

«1. Zeitersparnis,
2. Geldersparnis,
3. Vervielfältigung des Verkehrs.
4. Vermehrung von Grundwerten derjenigen Besitzungen, welche an Eisenbahnen liegen.»

Tuschfederzeichnung von Oscar Huguenin (1842-1903), «Rorschach dessiné le 15 juillet 1865, a coté du Magazin der Schieferbau Gesellschaft».
Magazin der Schieferbau Gesellschaft Rorschach 15.7.1865

Dass die Eisenbahnen «die räumliche Trennung durch Annäherung in der Zeit aufheben»19, schien ihm ihr wesentlichstes Verdienst zu sein. Die schwierige Frage nach dem Zusammenhang zwischen Eisenbahn und Fortschritt gebe ich gern an den Leser weiter, möchte jedoch eine Folge des Eisenbahnverkehrs hier noch erwähnen: Seit seinem Bestehen gibt es hierzulande keine Hungersnöte mehr. Gewiss haben zu diesem Resultat noch andere Faktoren beigetragen, die Verbesserung der Landwirtschaftsmethoden zum Beispiel, aber erst, als es möglich geworden war, jederzeit Brotfrucht aus fernen Gebieten herbeizuschaffen, brauchte man vor Missernten nicht mehr zu bangen.

Ungeachtet solcher Vorteile hatten nicht wenige im Lande Mühe, beim Eisenbahnrummel mitzutun und empfanden das, was die anderen als Wunder priesen als Ärgernis, es weckte ihre Opposition, ja Aggressivität. Identifizierten sich die industrie- und bundesstaatsfreundlichen Liberalen fast durchweg bedenkenlos mit allen Neuerungen, so fürchteten konservative Kreise um die Selbständigkeit der Regionen. Mit allem Fleiss sammelten sie Indizien, um das Goldene Kalb auf Rädern als Trojanisches Pferd des Teufels zu entlarven. Das Rückzugsgefecht, das diese Leute führten, teilweise mit Waffen, deren Untauglichkeit heute jedem Schulkind einleuchten, erregt nunmehr beinahe ein wenig Mitleid, zumal ehrlicherweise zugestanden werden muss: So gänzlich falsch waren die prinzipiellen Einwände nicht.

«Wozu dienen dem Menschen Dampfkraft und Eisenbahnen, wenn sein Geschwindigkeitsbedürfnis sich dadurch verzehnfacht hat?»20 fragte damals provozierend der französische Maler-Philosoph Paul Gavarni. Aber seit wann hat die Mehrheit für philosophische Weisheiten je Gehör und Verständnis gehabt? Die Eisenbahn war in ihrer Fahrt nicht
mehr zu bremsen. Selbst die Beschwörung der ansgeblich von ihr drohenden Gefahr für die Volksgesundheit vermochte da nichts mehr zu ändern. Noch 1874 war einer hiesigen Zeitung zu entnehmen: «Es sind in letzter Zeit mehrere Fälle der Erblindung vorgekommen, welche nach der Erklärung der Arzte ihren Entstehungrund in der Gewohnheit haben, während des Fahrens in der Eisenbahn zu lesen.»21

1869 wurden mehrere Attentate gegen den Bahnbetrieb unternommen; aufgehetzte Wirrköpfe hatten Steinhauerwerkzeuge auf die Schienen gelegt, um den Zug zum Entgleisen zu bringen. Bahnfeinde nörgelten ständig am neuen Verkehrsmittel herum. Der Gemeinderat hatte sich 1876 mit einer Eingabe «betr. den übermässigen Gebrauch der Signalpfeifen der Lokomotive»22 zu befassen. Weil jedoch diesbezüglich unumstössliche Bundesvorschriften herrschten, war den unter den Fortschrittsgeräuschen leidenden Bürgern nicht zu helfen.

Das Symbol des Maschinenzeitalters verstand weder Spass noch Ironie, was ein übermütiger Schlossergeselle erfahren musste, der «auf der Hafenstation die Pfeifsignale des Zugführers täuschend nachgeahmt» hatte, «so dass der Lokomotivführer irregeführt und hieraus leicht Unglücksfälle sich hätten ergeben können«.23 Für diesen einfältigen Streich wurde er wegen Gefährdung des Eisenbahnbetriebes mit 10 Fr. gebüsst.

Viel Übertreibung enthält die Behauptung nicht, dass die führenden Politiker das Wohl des Vaterlandes vom Gedeihen der Eisenbahnen abhängig machten. Ein unglaublicher Eifer bewegte sie, alle nur möglichen Punkte der Eidgenossenschaft einander näherzurücken, auf dass die Spruchband-Phrasen von der brüderlichen Verbundenheit der Schweizer möglichst bald Wirklichkeit werden. Mit solch idealistischer Motivation war allerdings kein Staat zu machen, die tatsächlich weichenstellenden Eisenbahnbarone setzten sich aus Gründen für die Sache ein, welche einen solideren Boden aufwiesen als vaterländische Sprüche.

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16 Ostschweizerisches Wochenblatt, 11.1.1870
17 Ostschweizerisches Wochenblatt, 11.5.1869
18 Professor Seliger, Über den Nutzen der Eisenbahnen.
19 Ebenda
20 E. und J. de Goncourt, Gavarni. Der Mensch und das Werk. Berlin o.J., S.281
21 Ostschweizerisches Wochenblatt, 21.11.1874
22 Protokoll des Gemeinderates Rorschach, 6.12.1876
23 Protokoll des Gemeinderates Rorschach, 3.4.1894

Text: Louis Specker
Buchtitel: Rorschacher Kaleidoskop 1985, S.16-19
Historische Skizzen aus der Hafenstadt im hohen 19. Jahrhundert
Copyright: 1985 by E. Löpfe-Benz AG, Rorschach

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