Sieg der Maschine - oder vom Optimismus der Liberalen und vom Entsetzen der Konservativen

Abbruch des Klosters Scholastika in Rorschach 1906
Abbruch des Klosters Scholastika Rorschach 1906

Von der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts gilt: Welcher Sache man auch immer seine Aufmerksamkeit zuwendet, sie steht entweder im Schatten oder im Lichte der modernen Industrie, nichts und niemand blieb von ihr unbetroffen. Was unter der Bezeichnung industrielle Revolution das Gefüge der Welt bis ins Innerste verwandelte, fasste seit der Vereinheitlichung von Post, Zoll, Massen und Münzen und nach dem Abschluss der ersten Phase des Eisenbahnbaus auch in der Schweiz Fuss. Bevor wir uns jedoch die industrielle Entwicklung in unserer Region vergegenwärtigen, soll unsere Betrachtung kurz jener Wirkung gelten, die dieser gewaltige Vorgang im Bewusstsein der Zeitgenossen hervorgerufen hat.

Der Inhalt der industriellen Umwälzung besteht wesentlich in der Entwicklung und Anwendung neuer Techniken zur Erzeugung von Energie - am Anfang stand die Dampfmaschine -, welche die Herstellung neuer Produkte in gewaltigen Mengen ermöglichte. Die Wirtschaft sprengte den Rahmen regionaler Gebundenheit und machte die Länder in neuartiger Weise voneinander abhängig. Die arbeitsteilige Fabrik-Produktion löste die bisher dominierende Einzelfertigung der gewerblichen Betriebe ab. Die Masse der Menschen geriet in Lohnabhängigkeit. Nicht mehr der Boden, sondern das Kapital wurde zum wichtigsten Produktionsfaktor.

Die Dynamik der Zeit liess die alten Fundamente erzittern, so dass mancher, wie 1854 der fromme Biedermeier Ludwig Richter, voller Angst und Verzweiflung ausrief: «Wir brauchen doch einen festen Grund, auf dem wir stehen und Fuss fassen können, wenn uns die ekle Seekrankeit unserer Zeit nicht überkommen soll ...»60 Aber die Weltgeschichte liefert seitdem keine für die Ewigkeit bestimmten Standplätze mehr. Sie schiebt vielmehr alles rücksichtslos auf die Seite, was ihren rasenden Lauf hemmt.

Gerieten die einen darüber in den Zustand tiefer existentieller Verunsicherung, wähnten sich die andern in voller Fahrt auf dem Wege in eine bessere Zukunft. Wie kaum je zuvor wurde mit solchem Eifer an der Zukunft gearbeitet, dass darüber die Gegenwart beinahe vergessen ging.

Die Herren der Industrie wie die Arbeiter waren eins in der Grundüberzeugung, dass zwischen dem Mass des maschinell erzeugten Reichtums und dem menschlichen Glück ein direkter Zusammenhang bestehe. In dieser Beziehung gab es zwischen den beiden Gesellschaftsschichten keinen trennenden Graben. Dieser verlief, wenn es um die Beurteilung des Industrialismus ging, zwischen Liberalen und Konservativen. Noch sollte es dauern, bis sich mit der sozialistischen Arbeiterbewegung eine dritte Kraft im Kampf der Meinungen bemerkbar machte, worüber auch noch zu berichten sein wird.

Feldmühle um 1890, Briefkopf-Lithographie
Feldmühle um 1890, Briefkopf-Lithographie

Letztlich fusste die liberale Ideologie auf dem Harmonieglauben der Aufklärer, sie vertraute blindlings dem Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage und hoffte auf die interessenausgleichende Macht einer Wirtschaft, welche früher oder später einen Zustand der Gerechtigkeit herbeiführen müsse. Also soll sich der Staat nicht in die Belange der Wirtschaft einmischen, sondern lediglich Nachtwächterfunktion wahrnehmen. Fortschrittsgläubig und optimistisch erwarteten die Erbauer des Bundesstaates das Heil in Wirtschaft, Wissenschaft und Technik vom freien Spiel der Kräfte.

Mit welch geradezu religiöser Inbrunst die liberalen Politiker ihre Zeit und deren Zukunft ins goldene Licht tauchten, verrät zum Exempel ein Abschnitt aus einer Rede des führenden liberalen St.Galler Politikers Basil Ferdinand Curti. 1847, bei der Einsetzung des ersten Bischofs von St.Gallen, pries er die Chancen des Jahrhunderts in höchsten Tönen: «Ich möchte es nennen das Zeitalter ... der Durchforschung, Durchdringung und Vollendung, welches zwar alles, was aussen ist, so viel wie möglich zu vermehren strebt, den Geist indessen höher achtet und das Innere nicht vergisst ... Und wann war irgend eine gute und schöne Kunst vollendeter und tiefgründiger, die Hand geschickter, der Erfindungsgeist kräftiger, die Natur mehr unterworfen, die Entfernung der Länder kleiner, endlich die Verbindung der Menschen durch Verkehr von Sprachgebiet zu Sprachgebiet, von Staat zu Staat offensichtlicher?»61 Und mit emphatischem Schwung bekräftigt er schliesslich den Glauben an den unaufhaltsamen Aufstieg des Menschengeschlechtes, «dass es beharre auf dem Wege des Lichtes und der Wahrheit und der menschlichen Bestimmung fromm hingegeben, immer ins Grössere und Bessere wachsend, ein leicht zu vermehrendes Glück der Zukunft hinterlasse ...»62 Nicht ohne einen Anflug von Wehmut nimmt man heute von diesem Stolz einer Epoche Kenntnis, die sich als erste Sprosse der Himmelsleiter dünkte.

Demgegenüber bedachten die Konservativen den Untergang der alten Ordnungen und Werthier-archien mit zornigen Kommentaren, erklärten die ganze Umwälzung zugunsten des Kapitalismus als «Produkt eines perversen Geistes, eines falschen und unheilvollen Gesetzes».63 Sie taten sich schwer am liberalen Sieg von 1847 und erkannten in allem, was auf ihn folgte, einen Abfall von Gottes ewigen Gesetzen. «Der Liberalismus in der Politik, im Leben, ist nichts anderes als der Rationalismus, die Vergöttlichung der Vernunft, des Individuums und seiner Selbstsucht in der Philosophie.»64 Und Beweise zu liefern für die Richtigkeit ihres Stand¬punktes, hatten die Konservativen keine Mühe. Die Welt geriet aus den Fugen, es stieg die soziale Unrast, der Geist der Geldgier und Spekulation ging um wie weiland die Pest; Rosstäuscher und Taschenspieler drängten an die Spitze der Gesellschaft. Dies blinde Vertrauen auf die unbeschränkten Fähigkeiten der Menschen, an die Machbarkeit des Glücks lehrte sie das Gruseln, diese gottverlassene Reduzierung der Lebenskunst auf blosse Rechnerei trieb sie in helles Entsetzen

Das damalige konservative Geschichtsdenken in nuce findet sich in einem Leitartikel des <Rorschacher Boten von 1876: «Es gibt allerdings berechtigte Wandlungen im Zeitenlaufe, doch liegt ihnen allen ein ewiges Prinzip zu Grunde, nur die Form wechselt, vervollkommnet sich, schreitet fort durch die verschiedenen Stufen des menschlichen Entwicklungsgeistes. Die Form ändert, der göttliche Geist und sein Gesetz aber bleiben, jene ist Hülle, Ware, diese Essenz, Gehalt, Kraft. Der moderne Geist hat nun aber auch die Fundamentalprinzipien negiert, modifiziert, sie auf einen anderen Boden übertragen, ihnen im Leben eine andere Richtung gegeben; er hat sie herausgehoben aus der christlichen Weltanschauung, dem christlichen Sittengesetze und seiner praktischen Anwendung.»65 Was halfs, die Geschichte scherte sich nicht mehr um Bannflüche.

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60 Ostschweizerisches Wochenblatt, 11.1.1870
61 Ostschweizerisches Wochenblatt, 11.5.1869
62 Professor Seliger, Über den Nutzen der Eisenbahnen.
63 Ebenda
64 E. und J. de Goncourt, Gavarni. Der Mensch und das Werk. Berlin o.J., S.281
65 Ostschweizerisches Wochenblatt, 21.11.1874

Text: Louis Specker
Buchtitel: Rorschacher Kaleidoskop 1985, S.35-37
Historische Skizzen aus der Hafenstadt im hohen 19. Jahrhundert
Copyright: 1985 by E. Löpfe-Benz AG, Rorschach

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