Die grosse Zeit und das Ende des Rorschacher Kornhandels

Hafen und Kornhaus Rorschach von Osten um 1905. Photo: Hans Labhart
Hafen und Kornhaus Rorschach von Osten um 1905. Photo: H. Labhart

Kluge äbtische Politik, von ehrlicher Fürsorge um das Wohlergehen des Volkes gleichermassen geleitet wie von aufmännischen Erwägungen, hat aus dem kleinen Hafenstädtchen Rorschach den bedeutendsten Kornumschlagplatz der Ostschweiz gemacht. Der 1748 vollendete Prachtbau des Kornhauses lässt spontan die Vermutung aufkommen, der Rorschacher Kornhandel habe seine grosse Zeit im 18. Jahrhundert erlebt; tatsächlich fällt diese jedoch in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Nach dem von den miserablen Ernteerträgen verschuldeten Tiefstand von 1846/47 setzte beispielloser Aufstieg ein, hervorgerufen durch den Ausbau des Eisenbahnnetzes und die Vereinheitlichung des Geldwesens im jungen schweizerischen Bundesstaat. Nach 1850 gar darf Rorschach den Ruf für sich in Anspruch nehmen, der wichtigste Fruchtmarkt der Schweiz zu sein. Bevor der eidgenössische Zoll in Kraft trat, benützte man die Frist, profitierte von der guten Ernte und füllte das Kornhaus mit zollfreiem Getreide von unten bis oben. «Die Dampfboot-Schleppschiffe waren so beladen, dass es manchmal schien, als ob nur die Masten aus dem See schauten»5, war in der Zeitung zu lesen.

Als 1856 Rorschach durch die Eisenbahn der grossen, weiten Welt verbunden wurde, steigerte sich der Umsatz von Jahr zu Jahr. Ungarn trat nun als Lieferant an die erste Stelle, Süddeutschland verlor sein Monopol. Das ungarische Getreide fiel in solchen Mengen an, dass die Lagerräume nicht mehr ausreichten und die Säcke um das Kornhaus herum stockhoch aufgestapelt werden mussten. Mit einer Einfuhr von 497028 Zentnern im Jahre 1866 wurde ein Rekord erzielt, und die dringliche Frage nach der Erweiterung der Lagerkapazität war nicht me länger aufzuschieben.

Westlich des Kornhauses gewann man durch Aufschüttung Neuland, auf dem 1869 zwei grosse Kornschuppen erstellt wurden, die bis 1916 dort standen und den Anblick Rorschachs von der Seeseite arg beeinträchtigten. Bald genügte auch dieser Raum nicht mehr, um die Fülle der Frucht aufzunehmen. Allerlei Pläne wurden im Grossen Rat diskutiert, ohne dass man indessen die Bereitschaft aufbrachte, eine radikale Lösung anzustreben.

Rund um den Rorschacher Donnerstagmarkt blühte das einträgliche Spekulationsgeschäft. Der Grosshandel bemächtigte sich des Getreideumschlages. Waren vor wenigen Jahren noch 60'000 bis 80'000 Gulden nötig, um ein gutgehendes Getreidegeschäft betreiben zu können, so musste einer um 1870, der da erfolgreich mittun wollte, vergleichsweise ein Betriebskapital von mindestens einer Million Gulden aufbringen. Die Zeit der Kleinkrämer war vorbei!

Der Rorschacher Kornhausbetrieb unterstand dem Kanton, der sich in der guten Absicht, die Kontrolle über die Brotpreise zu bewahren, damit eine Last aufgebürdet hatte, die Anlass zu permanenter Verdrossenheit bildete. Sorgen noch und noch mit diesem Kornmarkt, aber die kleinen und grossen Räte mussten sich immer wieder vom hieb- und stichfesten Argument, dass es eine gemeinnützige volkswirtschaftliche Einrichtung sei und sich daher die aufgebrachten Opfer rechtfertigen, widerwillig überzeugen lassen. So wurstelte man denn schlecht und recht weiter und trug wenigstens Sorge, dass nicht mehr als die allernötigsten Investitionen getätigt wurden.

Die 1869 erstellten Kornschuppen westlich des Kornhauses. Aufahme beim Hochwasser 1910. Photo: Hans Labhart (Download von http://www.rorschachbuch.ch/Presse/downloads/index.html)
Die 1869 erstellten Kornschuppen westlich des Kornhauses, 1910

Zum Ärger ordnungsliebender Bürger verunstalteten die Requisiten des Kornhandels die gesamte Umgebung des Hafens, was besonders an hohen Feiertagen unangenehm auffiel. Um ein wenig Ordnung zu schaffen, drohte dar Gemeinderat jenen unordentlichen Leuten mit Bussen, die ihre Säcke und Schubkarren vor Sonn- und Feiertagen zwischen Korn- und Kaufhaus einfach liegen- und stehenliessen.

1880 wurde zur Unterbringung der Getreidesäcke ein weiterer Schuppen beim äusseren Bahnhof erstellt, aber weil damit noch keine wesentliche Besserung der Verhältnisse erzielt werden konnte, bildete die Lagerung der Frucht weiterhin einen viel diskutierten Gegenstand beim Volk wie bei den Behörden. Ein besonders rühriger Bürger verfiel 1881 auf den genialen Gedanken, nördlich des katholischen Pfarrhauses (Hauptstrasse 26), die Kornschuppen am Seeufer auf eingerammten Pfählen zu errichten. Weil das Tit. Finanzdemartement jedoch für solch antiquierte Pfahlbauer-Projekte nicht das geringste Verständnis aufbrachte, mussten Arbeiter, Kornhändler und Müller weiterhin die Inkonvenienzen auf sich nehmen, welche «mit dem Hin- und Herlaufen zwischen Kornhaus und Kornschuppen»6 verbunden waren.

Unterdessen hatte man das Kornhaus mit hässlichen Vorbauten versehen, um die Kornsäcke wenigstens kurzfristig vor den Folgen der Witterung zu schützen. Schwieriger war es, die heiklen Güter vor den gefrässigen Vögeln abzuschirmen, die in Armeestärke den Kornumschlagplatz heimsuchten und eine wahre Plage bildeten. Die verantwortliche Behörde sah sich 1869 genötigt, die «Tauben, welche sich auf dem Kornhausplatz und den nebenbei befindlichen Kornschuppen niederlassen und aufhalten, wodurch die Fruchtsäcke von denselben beschädigt werden, als vogelfrei»7 zu erklären. Inwieweit sich die amtliche Autorität gegenüber dem diebischen Getier durchgesetzt hat, ist den Dokumenten leider nicht zu entnehmen.

Bis in die Mitte der neunziger Jahre wuchs die Menge des gelieferten Getreides, dann erfolgte ein rapider Rückgang. 1890 zählte man noch 680'000 Meterzentner, 1900 waren es bloss noch 301'000. Verschiedene Ursachen haben diesen Umschwung herbeigeführt: Die fortschreitende Ausdehnung der Bahnlinien ermöglichte es, das begehrte Getreide immer schneller und immer näher an seinen Bestimmungsort zu transportieren, so dass die hohen Lagerkosten zu umgehen waren. Die Bundesbahn hatte unterdessen auch eigene Lagerhäuser in Romanshorn und Buchs erbaut. Schliesslich führte man das osteuropäische Korn über Genua und die Gotthardlinie in unser Land, und das amerikanische Getreide kam rheinaufwärts in die Schweiz. Damit waren die goldenen Zeiten für den Rorschacher Kornmarkt vorbei.

Im November 1907 beantragte die St.Galler Regierung dem Grossen Rat die Aufhebung der staatlichen Kornhausverwaltung, «weil die Rendite dieser Institution für den Staat gleich Null oder fast unter Null ist».8 In Anbetracht dieser Situation war die Gemeinde Rorschach bereit, das Kornhaus zu übernehmen, wo sie der expandierenden Industrie den dringlich gewünschten Lagerraum zur Verfügung stellen konnte. Am 4. September 1908 erfolgte die vertragliche Übergabe des Kornhauses an die Gemeinde. Mit der Aufhebung des Kornmarktes, der Rorschach in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts ein unverwechselbares Gepräge verliehen hatte, begann für die Hafenstadt ein neuer Zeitabschnitt.

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5 Rorschacher Wochenblatt, 8.2.1850
6 Rorschacher Bote, 6.12.1881
7 Ostschweizerisches Wochenblatt, 23.2.1869
8 Das Kornhaus in Rorschach. Rorschacher Bote, 19.11.1907

Text: Louis Specker
Buchtitel: Rorschacher Kaleidoskop 1985, S.11-13
Historische Skizzen aus der Hafenstadt im hohen 19. Jahrhundert
Copyright: 1985 by E. Löpfe-Benz AG, Rorschach

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